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AutorenbildMichael Anker

Die dunkle Stille

Zweiter Teil des fotografischen Zyklus „Erinnere mich“


Das Haus meines Urgroßvaters in Irši Lettland

Mit dem fotografischen Zyklus „Erinnere mich“ versuche ich, meine kulturelle Identität zu erforschen. Gleichsam ist es eine Studie über die Beziehung von Menschen und Landschaften sowie über Mythen und Erzählungen. Dabei geraten zwei Topografien, die abseits medialer Aufmerksamkeit liegen, in meinen Blick: das Oderbruch an der nordöstlichen Grenze Deutschlands zu Polen und die ehemalige deutsche Sprachinsel Hirschenhof im heutigen Lettland. Gleichsam zwei weiße Flecken, dünn besiedelt und manchmal etwas archaisch anmutend. Zwei sich ähnelnde, jeweils durch einen großen Strom durchschnittene Landschaften, verbunden durch die kollektiven Erinnerungen an traumatische Folgen der jüngeren Geschichte. Beide, gravierenden gestalterischen Transformationen unterworfen, sind zudem gesättigt mit Spuren des letzten großen Krieges. In diesen Räumen ist auch meine Familiengeschichte verwurzelt. Die väterlicherseits, erzählt von naturverbundener Sesshaftigkeit, die meiner Mutter von Migration und Flucht. Beide Erzählungen verknüpfen sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Oderbruch. Es ensteht ein Fotoalbum der besonderen Art - privat und zugleich öffentlich. Ein emotionaler Resonanzboden.



Den Spuren meiner väterlichen Familie hatte ich bereits den ersten Teil des Zyklus „Der dunkle Strom“ gewidmet. Der zweite Teil, „Die dunkle Stille“, will Fäden zu den Ahnen meiner Mutter knüpfen. Sie wanderten vor etwa zweihundertfünfzig Jahren aus der Pfalz aus. Widrige Zukunftsaussichten, Armut und Hunger, ließen sie dem Werben der deutschstämmigen, russischen Zarin Katharina II. folgen. Diese ließ 1766 etwa 170 deutsche Siedlerfamilien auf dem zaristischen Krongut Hirschenhof im damaligen Livland ansiedeln. Es bedurfte Jahrzehnte ungeheurer Anstrengungen und Entbehrungen der Neubürger, bis die Kolonie aufblühte. Mehr als 170 Jahre friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Letten endete 1939 mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und dem Hitler-Stalin-Pakt. Die Kolonie wurde geschlossen und die Bewohner in das von Deutschland annektierte Polen, ins Wartheland, zwangsumgesiedelt. „Unter großen Verlustschmerzen verließen die Hirschenhofer ihre Heimat - hatten sie doch inzwischen eine eigenständige Identität entwickelt. Als wir mit der „Steuben“ den Hafen von Riga verließen, sangen wir die lettische Hymne“, erzählte meine 93-jährige Tante, Waltraut Spengel.


Mit örtlicher Hilfe konnte ich das, seit mehr als zehn Jahren, leer stehende ehemalige Haus meines Urgroßvaters ausfindig machen. Der Zufall wollte es, dass es eines der wenigen ist, welches noch existiert. Wenn auch nicht mehr bewohnbar.

Ebenfalls in einem erbärmlichen Zustand befindet sich die ehemalige evangelisch-lutherische Kirche der Kolonie. Unter sowjetischer Herrschaft wurde alles Sakrale geplündert und das Kirchenschiff als Lager für Mineraldünger genutzt. Zuvor war das Gotteshaus 170 Jahre lang der Ort geistlichen Lebens meiner Vorfahren und ihrer Nachbarn – der Ort für Taufen, Hochzeiten und Trauerfeiern. Weitgehend sich selbst überlassen, gleicht der alte Kolonisten-Friedhof inzwischen einem mythischem Märchenwald. Es war ein sehr berührender Moment, als ich ihn das erste Mal betrat.


Über die deutschsprachige Siedlung Hirschenhof, in der zu Hochzeiten bis zu 3000 Menschen gelebt haben sollen, ist nur noch wenig bekannt. Seit 85 Jahren ist dort Stille eingekehrt. Die Sowjetmacht ließ keine Erinnerungen an diesen Ort zu. Erst die Letten erkannten in den letzten zwei Jahrzehnten die kulturhistorische Bedeutung dieses Mikrokosmos. Viele Nachfahren der ehemaligen Einwanderer assimilierten bis zu ihrer Vertreibung in höhere Stellen der lettischen Gesellschaft. Der lettische Professor für Geschichte und Philosophie, Artis Pabriks sieht in der Geschichte dieses kleinen Ortes etwas Universelles, „will man die heutigen Migrationsströme begreifen“.  Auch seine Identität ist in Hirschenhof verwurzelt.


Die Karte zeigt die Spur der Siedler von Hirschenhof und damit die meiner Vorfahren. Sie segelten mit dem Schiffer Reders im Mai 1766 von Lübeck nach Kronstadt und von dort nach Dünamünde/Riga. Die letzte Etappe zum Krongut Hirschenhof legten sie auf Pferdewagen zurück. Ich folgte 2024 der Spur nach Hirschenhof, ebenso wie die ehemaligen Auswanderer, auf dem Seeweg. Meine erste Reise führte jedoch von Kiel nach Klaipeda und dann über Land nach Irši und auf dem selben Weg zurück.


Seit etwa 2018 versuche ich meine und die in die Landschaften eingeschriebenen Erinnerungen fotografisch umzusetzen. Fiktion und Dokumentation lassen sich kaum unterscheiden. Die Aufnahmen entstehen analog auf 6x6-Filmmaterial. Es scheint mir die einzig relevante Form zu sein, um die Geschichte und Geschichten episch aufzuarbeiten.


Seit dem 7. September 2024 läuft meine Solo-Ausstellung „Erinnere mich“ im Schul- und Bethaus Altlangsow. Dort sind erstmals Teile dieses Zyklus, bestehend aus „Der dunkle Strom“ und „Die dunkle Stille“, gemeinsam zu sehen. Zusätzlich gibt es die Arbeit „Was bleibt“, die wie ein gedanklicher Knoten beide Teile verbindet.




Technische Daten: Hasselblad 501CM, Mamiya 6, Kodak Portra

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